FAZ-Interview über die Fixierung von Athleten auf Olympia, die tickende Uhr im Kopf und den Schmerz, die Trainingsstätte zu verlieren.
Was ist ein Hochleistungssportler ohne seine Sportstätte?
Er ist wie krank. Total eingeschränkt. Er ist verletzt, dass er da nicht hin kann und seine Disziplin nicht ausüben kann, dass er losgelöst ist. Das ist krass. In verschiedenen Sportarten bedeutet es, sie müssen alleine trainieren, kriegen ihren eigenen Trainingsplan, und das hat mit der eigentlichen Sportart nichts mehr zu tun.
Was machen sie also?
Ich habe in verschiedensten Begegnungen sportpsychologischer Betreuung und in Interviews festgestellt, dass Sportler nicht resignieren. Das heißt, sie sind erfinderisch. Wenn man verletzt ist oder krank, kann man immer noch etwas tun, sich noch bewegen. Wenn zum Beispiel ein Triathlet, der sehr viel Platz für sein Training braucht, zuhause bleiben muss, dann ist er extrem eingeschränkt. Aber dann lässt er sich etwas einfallen. Er kann an spezifischen Dingen wie Krafttraining mit Hanteln oder dem Eigengewicht arbeiten. Wie die Hausfrau, die vor einem Video ein Aerobic-Programm Bauch-Beine-Po macht. Ein Training im Labor.
Welche Rolle spielt die tickende Olympia-Uhr im Hinterkopf?
Die läuft mit und dadurch entsteht Druck, auch Druck im Kopf. Ich weiß, ich muss eigentlich trainieren die ganze Zeit. Je mehr ich daran gehindert werde, an meinem Sportplatz spezifisch zu trainieren, desto mehr entsteht eine Diskrepanz.
Wie muss man sich das vorstellen: Das ganze Leben ist im Olympiajahr auf die Spiele ausgerichtet?
Nicht nur in diesem einen Jahr. Man braucht eine ganze Leistungsentwicklung über Jahre hinweg, die genau geplant wird. Die Trainer im Hochleistungssport machen langfristige Pläne. Manche Trainer erstellen ganze Excel-Tabellen, in die sie Trainingslager, Wettkämpfe und Heimtrainings einbauen. Sie lassen die Athleten per App ihre täglichen Trainingseinheiten eingeben. Ich würde fast sagen, dass die Vorbereitung von den vorigen Olympischen Spielen bis zu den nächsten reicht. Ein Sportler, der mit zwanzig an Olympischen Spielen teilnehmen will, fängt also mit sechzehn an. Für erfahrenere Athleten ist es ein bisschen anders, die können ihre Leistung nicht mehr so sehr steigern. Aber für die Jüngeren ist das schon ein gravierender Prozess.
Kann man sagen, sie sind fixiert auf das Ziel?
Ja. Das hat auch damit zu tun, dass sie sich vorstellen, wie es bei den Spielen sein wird. Ein Jahr vorher werden die Wettkampfstätten getestet, Schwimmbecken ausprobiert oder Mountainbike-Strecken abgefahren. Man geht mit dieser Erfahrung nach Hause und trägt sie ein ganzes Jahr mit sich herum. Die Leute, die ganz akribisch arbeiten, schauen sich auch das Olympische Dorf an, die Wege, und prägen sich das ein. Die haben das ganze Szenario im Kopf und visualisieren diesen Weg.
Embed from Getty ImagesEs gibt genügend Erfahrungen mit Sportlern, die ihr Ziel, die Olympiaqualifikation, nicht erreichen. Aber wie muss man sich vorstellen, was in ihnen vor sich geht, wenn der Fixpunkt selbst nicht mehr fix ist?
Große Unsicherheit, was das Ziel anbetrifft – sie haben das Datum ihres Wettkampfs, oder im Schwimmen oder in der Leichtathletik ihrer Wettkampfwoche vor Augen und richten ihren Trainingsplan danach aus. Sie trainieren zum Beispiel zu ungewöhnlichen Zeiten, weil das auch die Startzeiten in Tokio sein werden.
Wozu führt die Diskrepanz zwischen den Sportlern, die sich allein ein Bild machen müssen, und den vom praktischen Leben offensichtlich nicht mehr erreichten Funktionären?
Bei diesen Funktionären und den Sportinstitutionen geht es um sehr viel Geld – mir scheint, dass bei ihnen die Nerven bloßliegen. Ich kann mir vorstellen, dass es für den Sport Einschnitte geben wird. Weil es so nicht mehr weitergehen kann: Dass sie entgegen allen gesellschaftlichen Erfordernissen so abgehoben sind.